Neues Forschungsprojekt zur Verfolgung von Homosexuellen im Saarland

Pressemitteilung der Landeszentrale für Pädagogik und Medien:

Im Saarland wird die Verfolgung von Schwulen und Lesben im Dritten Reich und der Bundesrepublik wissenschaftlich aufgearbeitet: Dr. Kirsten Plötz und Dr. Frédéric Stroh arbeiten im Forschungsprojekt des Saarlandes und der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld

„Einen Schlussstrich unter die Aufarbeitung der NS-Zeit kann es nicht geben, denn es gibt nach wie vor weiße Flecken. Dazu gehört die Verfolgung von Schwulen und Lesben im Dritten Reich an der Saar. Aber auch in der Bundesrepublik mussten Schwule und Lesben bei Aufdeckung noch lange um ihre Existenz fürchten. Es ist wichtig, dieses Thema aufzuarbeiten“, erklärt Saarlands Bildungsministerin Christine Streichert-Clivot zum Start des wissenschaftlichen Forschungsprojektes über die bislang weitgehend unerforschte Verfolgung von Schwulen und Lesben im Saarland 1935 – 1994.

Forschungsmittel des Saarlandes, für die sich der Landtag des Saarlandes starkgemacht hatte, in Höhe von 80.000 € sowie Fördermittel der in Berlin sitzenden Bundesstiftung Magnus Hirschfeld in Höhe von 35.000 € ermöglichen das am Landesinstitut für Pädagogik und Medien verankerte Projekt. Dessen Leiter, der Historiker Dr. Burkhard Jellonnek, hatte vor dreißig Jahren die erste wissenschaftliche Arbeit über „Homosexuelle unter dem Hakenkreuz“ vorgelegt. Unterstützung bekommt er vom Stadtarchiv Saarbrücken, dem Lesben- und Schwulenverband, der FrauenGenderBibliothek Saar, der Landeszentrale für politische Bildung und Einzelpersonen.

„Ich begrüße es außerordentlich, dass der Landtag des Saarlandes sich dazu entschlossen hat, die Frage der Verfolgung und Diskriminierung von Lesben und Schwulen auch über die Zeit des Nationalsozialismus hinaus bis in die 1990er Jahre wissenschaftlich zu erforschen“, so Jörg Litwinschuh-Barthel, geschäftsführender Vorstand der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld. „Nachdem sich unsere Stiftung in mehreren Kooperationsprojekten bereits mit der Aufarbeitung der LSBTIQ*-Geschichte in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg beschäftigt hat, freuen wir uns sehr, die Forschungen im Saargebiet über unsere Förderlinie unterstützen zu können. Von großer Bedeutung ist für uns insbesondere, dass das Forschungsprojekt die oftmals wenig beachtete Situation lesbischer Frauen gleichrangig in den Blick nimmt.“

„Mit der Aufarbeitung der Verfolgung von Homosexuellen im Saarland mit seiner besonderen Geschichte vor und während des Dritten Reiches sowie in der Nachkriegszeit schließen wir eine wichtige Lücke in der bisherigen Forschungsarbeit. Der Einsatz zur Bereitstellung von Forschungsmitteln durch das Land war mir eine Herzensangelegenheit. Vor dem Hintergrund der in der Landeshauptstadt laufenden Diskussion über ein Mahnmal zur Erinnerung an die Verfolgung von Lesben und Schwulen haben wir im laufenden Doppelhaushalt erneut Mittel in Höhe von 20.000 € als Landesanteil eingestellt.

Wichtig ist mir, dass diese Erinnerung auch in die Zukunft gerichtet ist: Wir wollen eine Gesellschaft der Vielfalt und Offenheit, die sich gegen Ausgrenzung und Stigmatisierung einsetzt“, so der bildungs- und kulturpolitische Sprecher der SPD-Landtagsfraktion Jürgen Renner.

Mit einer bundesweiten Ausschreibung wurden zwischenzeitlich auch zwei ausgewiesene Wissenschaftler*innen gefunden, die seit Monaten in den einschlägigen Archiven sind und entsprechende Akten und Literatur sichten.

Die 1964 in Hannover geborene Dr. Kirsten Plötz studierte Geschichte und Politik an der dortigen Universität, promovierte 2002 über ‚alleinstehende‘ Frauen in der frühen Bundesrepublik 1949-1969. Neben zahlreichen Veröffentlichungen zur Geschlechtergeschichte, z.B. über lesbisches Leben in der Weimarer Republik, arbeitete Kirsten Plötz an mehreren Filmproduktionen mit und forschte zeitweilig am Göttinger Max-Planck-Institut für Geschichte. Gemeinsam mit Günter Grau erstellte die Historikerin im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin und der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld die vom Rheinland-Pfälzischen Ministerium für Familie, Frauen, Jugend, Integration und Verbraucherschutz herausgegebene Studie zur strafrechtlichen Verfolgung und Rehabilitation weiblicher und männlicher Homosexualität in Rheinland-Pfalz und erforschte für das Land Hessen Diskriminierungen lesbischer Liebe von den Anfängen des Landes bis in die 1980er Jahre. Für das Land Rheinland-Pfalz legte sie zuletzt eine vielbeachtete Studie über den Entzug des Sorgerechts von Müttern in lesbischen Beziehungen vor

Der 1983 in Saargemünd geborene Dr. Frédéric Stroh gehört dem Geschichts-forschungszentrum ARCHE der Universität Straßburg an und arbeitet insbesondere über die Geschichte der NS-Strafverfolgung der männlichen Homosexualität innerhalb und außerhalb des Reiches. Nach dem Studium der Geschichte, Humangeographie und Ethnologie in Frankreich sowie an der Technischen Universität Dresden promovierte Stroh 2018 an der Universität Straßburg mit einer vergleichenden Studie zur NS-Verfolgung der Homosexualität in Baden und im annektierten Elsass, 2019 ausgezeichnet mit dem Schöpflin-Preis des Fördervereins des Generallandesarchivs Karlsruhe. Der mit zahlreichen Schriften und Aufsätzen ausgewiesene Autor war zwei Jahre lang Mitglied des deutsch-französischen Forschungszentrums Marc Bloch in Berlin, wo er 2016 die Tagung „Staat und Homosexualitäten im 20. Jh.: Brüche und Kontinuitäten in französisch- und deutschsprachigen Ländern“ mitorganisiert hat. Nach seiner Promotion hat er ein Postdoc-Projekt über die Verfolgung der Homosexualität in den vom „Dritten Reich“ annektierten Polen und Slowenien mit Förderung des Deutschen Historischen Instituts Warschau durchgeführt.

Dr. Plötz und Dr. Stroh hoffen, neben der Aktenrecherche auch Hinweise aus der Öffentlichkeit zu bekommen und suchen Zeitzeug*innen aus NS-Tagen wie der frühen Bundesrepublik. Nähere Informationen zu den Aufrufen der beiden Wissenschaftler finden Sie in der Anlage.

Für den Historiker Dr. Burkhard Jellonnek drängen sich für das Forschungsprojekt zahlreiche Fragestellungen auf. Gab es hier auch in punkto Homosexuellenverfolgung einen Sonderweg, weil das Saargebiet erst 1935 in den Geltungsbereich der Gesetzgebung des NS-Systems geriet? „Aus anderen Forschungsarbeiten wissen wir,“ so der Leiter des Landesinstituts für Pädagogik und Medien, „dass für viele schwule Männer mit der reichsweit einsetzenden Verfolgung nach dem sogenannten Röhm-Putsch am 30. Juni 1934 das Saargebiet Rückzugsort und nach 1935 auch Durchgangsort für die Flucht in das liberalere Frankreich gewesen ist.“ Findet man vielleicht sogar Spuren für den damals aus Berlin vor der Nazi-Hatz geflüchteten jüdischen und zugleich schwulen Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld, der für Max Braun und seine in Saarbrücken erschienenen sozialdemokratische Zeitung „Volksstimme“  Artikel geschrieben hat und in seinem Testament von einem in Saarbrücken versteckten Nachlass gesprochen hat? Und natürlich stellt sich die Frage, ob es nach 1935 Hochkonjunkturen der Verfolgung gegeben hat, ob homosexuelle Arbeiter stärker im Fokus standen als Schwule aus der Oberschicht, weil sie sich besser zu tarnen verstanden? Gab es medizinische Experimente, waren Schwule aus dem Saarland besonders gefährdet durch die sogenannte freiwillige Entmannung? Und was passierte nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches, als das Saarland nicht zur Bundesrepublik gehörte?

Wenig weiss man auch über die Nachkriegssituation:  In saarländischen Schwulenkneipen wie der „Madame“ erzählte man, dass nicht eben wenige homosexuelle Männer nach ihrer diskriminierenden Enttarnung in der Öffentlichkeit aus Angst vor Repressionen von Arbeitgeber*innen und Gerichten Selbstmord verübt haben.

Und wie gestaltete sich die Situation lesbischer Frauen im Saargebiet? Wurden ihre Beziehungen unmöglich, weil lesbische Frauen etwa als „Asoziale“  kriminalisiert wurden? Wie wirkte sich der kriegsbedingte „Frauenüberschuss“ auf das Ansehen und den Alltag von Frauenpaaren aus? In welcher Weise wurde öffentlich über Liebe unter Frauen gesprochen – oder vielmehr geschwiegen? Wie viele Frauen gingen eine Ehe ein, weil etwas anderes nicht vorstellbar war? War es ihnen möglich, diese Ehen wieder zu beenden? Wie konnten Frauenpaare sich und gegebenenfalls ihre Kinder ernähren?

Licht ins Dunkel bringen werden nun Dr. Kirsten Plötz und Dr. Frédéric Stroh mit ihren Forschungen.

 

Kontakt:

Dr. Burkhard Jellonnek, mobil  0170 904 2059; b.jellonnek@lpm.saarland.de

Dr. Kirsten Ploetz, Kirsten.ploetz@web.de

Dr. Frédéric Stroh, Frederic.stroh@wanadoo.fr