Ob es wirklich ein Engel ist, der in Campbell’s Run halb verkohlt in einer rauchenden Erdspalte steckt? Das werden wir erst ganz am Ende erfahren. Bis dahin erleben wir einen Parforce-Ritt durch die untergegangene Minenarbeiter-Welt im ländlichen Pennsylvania, untergegangen im wortwörtlichen Sinn. Denn die Geschichte hat ein historisches Vorbild: In Centralia, Pennsylvania, wüten seit 1962 unterirdische Minenbrände, die seitdem Straßen und Häuser verschlucken, die Natur zerstören und die meisten Bewohner*innnen zum Wegzug gezwungen haben. Zurück blieben ein verwüsteter Landstrich und eine verarmte Bevölkerung, in der es fast nur noch Verlierer gibt.
Hier siedelt Tawni O’Dell die Handlung ihres Romans an. Gleich auf den ersten Seiten wird unter schaurigen Umständen die erste Leiche gefunden und geborgen, und wir erfahren von den „knorrigen, blattlosen Bäume[n], die wie Riesenhände von Untoten aus der leicht schwelenden Erde ragen.“ Damit ist ein Ton gesetzt, ein Bild geschaffen, das den Roman auf unheimliche Weise prägt. Die Unterweltfeuer schwelen unerbittlich, und die Menschen in der Oberwelt retten sich in einen Widerstand, der im besten Fall resigniert oder trotzig, manchmal aber auch bösartig sein kann.
Deutlich benannt werden die Folgen für die dort lebenden Familien, denen buchstäblich der Boden unter den Füßen wegbrennt: jahrelange Arbeitslosigkeit hat ihren Preis, Alkoholismus, Drogen, sexueller Missbrauch, Prostitution, Jugendkriminalität sind die Folgen. Ein Höllenszenario, dem die kantige Ermittlerin Chief Carnahan recht abgebrüht, aber immer mit klarem Blick für die Realitäten begegnet. Zumal sie selbst aus der Gegen stammt und eine eigene, in Teilen ungeklärte Familiengeschichte mitbringt.
Die beiden Erzählstränge überkreuzen und verstärken sich. Hier die allmähliche Aufklärung des Todes des Mädchens Camio, die aus einer stadtbekannten unsympathischen Loser-Familie stammte und auf dem besten Wege war, sich aus diesem Milieu zu befreien. Dort parallel die Aufarbeitung der familiären Vernachlässigung in Kindheit und Jugend der Polizeichefin, gipfelnd in der Ermordung von Chief Carnahans Mutter vor 35 Jahren. Schicht um Schicht werden die Dysfunktionen in beiden Familien aufgedeckt, ein aufklärender Schock jagt den nächsten. Am Ende stehen wir fassungslos und zutiefst beunruhigt vor den mörderischen Folgen jahrzehntelanger Vernachlässigung einer nutzlos gewordenen Bevölkerung. Dass diese ehemaligen Bergbau- und Ölfördergebiete heute Trump Country sind, sei nur am Rande angemerkt.
Als Gegengewicht schafft O’Dell mit Dove Carnahan eine Ermittlerinnenfigur, die ihre eigene Vorgeschichte mitbringt, und die dem allgegenwärtigen Sexismus und den menschlichen Abgründen gleichermaßen lakonisch begegnet. Woher diese Haltung rührt, wird uns bereits früh vermittelt: „Mit fünfzehn hatte ich die bestmöglichen Eltern: Sie waren tot und konnten mir nichts mehr tun.“ Damit setzt die Erzählerin gleichfalls einen Ton, dem die Leser*in zunehmend verfällt, und schafft einen Spannungsbogen mit überraschenden Entwicklungen bis zur letzten Seite. Wer Engel und wer Teufel ist, oder wer sich einfach ans „Meimer“-Prinzip hält („Maul halten und eigenen Mist endlich regeln“), wird so auch noch aufgeklärt.
Tawni O`Dell hat bereits fünf Romane und hiermit nun ihren ersten Kriminalroman über die heruntergekommenen Coal Towns um Pittsburgh, Pennsylvania geschrieben. Dem Argument Verlag (edition ariadne) gebührt der Verdienst, diese exzellente Autorin erstmals der deutschen Leser*innenschaft vorgestellt zu haben. Weitere Übersetzungen ihrer Werke wären wünschenswert, zumal die Verwüstungen einer nachindustriellen Epoche ja auch in unserem Land zu beobachten sind.
Tawni O’Dell: Wenn Engel brennen. Argument Verlag, edition ariadne, Hamburg 2019, 349 S.
Rezension: Dr. Annette Keinhorst