Buchrezension von Feministisches Lesen zu “Sphinx” von Anne Garréta

Die FrauenGenderBibliothek Saar präsentiert eine Rezension von www.feministischeslesen.de zu “Sphinx” von Anne Garréta. Das Buch steht bei uns zur Ausleihe bereit.

Rezension von Tanja:

Hast du schon einmal eine Liebesgeschichte gelesen, bei der das Geschlecht der beiden Protagonist*innen kein einziges Mal genannt wurde? Für uns war es das erste Mal.

Anne Garréta hat mit ihrem Roman „Sphinx“ genau das geschaffen – und zwar schon 1986. Mitte der 2010er Jahre erhielt das Buch mit seiner noch immer aktuellen Thematik erneut jede Menge Aufmerksamkeit, als es aus dem Französischen erstmals ins Englische (2015) und Deutsche (2016) übersetzt wurde. Keine leichte Aufgabe, denn rein grammatikalisch betrachtet findet sich auf 184 Seiten kein einziger Hinweis darauf, welches Geschlecht die Erzählinstanz und deren große Liebschaft A*** haben. Kein Pronomen – keine Thematisierung des Geschlechts.

Und doch sei beim Korrektorat kaum aufgefallen, dass sich in die englische Übersetzung vor deren Veröffentlichung an zwei Stellen ein kleines „her“ eingeschlichen hatten. Die Übersetzerin Emma Ramadan – und mit ihr die Lektoratsabteilung – scheinen also trotz des Drahtseilakts des Schweigens der Autorin ein recht genaues Bild im Kopf gehabt zu haben, an welcher Stelle es sich um eine handelt. Nach unserer Lektüre des Romans können wir ihr Kopfkino nur zu gut nachvollziehen.

Lesen erzeugt Bilder im Kopf

Wann hast du zuletzt eine Buchverfilmung angeschaut und warst mit der Auswahl der Schauspieler*innen so gar nicht zufrieden? Figur x wurde im Buch doch brünett und rundlich beschrieben, Person y müsste deutlich größer sein und im schlimmsten, aber leider nicht seltenen Falle: Warum um alles in der Welt spielt ein*e weiße*r Schauspieler*in eine BIPoC-Figur? Diese Diskrepanz entsteht einerseits durch die viel zu heteronormative Filmbranche, andererseits aber auch aus unseren Vorstellungen heraus. Beim Lesen entstehen in unseren Köpfen Bilder, die Kreativität wird angeregt, wir stellen uns anhand der Beschreibungen der*des Autor*in – und manchmal auch darüber hinaus – genau vor, wie die Figuren der Erzählung wohl aussehen mögen und welche Handlungen ihrem Charakter entsprechen. Werden uns Informationen vorenthalten, versuchen wir – bewusst oder unbewusst – diese aus dem Kontext zu erschließen und die weißen Flecken des Storyboards mit Leben zu füllen.

Eine häufig beschrittene Ebene, die zur Kategorisierung und Beschreibung von Menschen genutzt wird, ist das Geschlecht. Würden wir im Zuge eines eigenen Buchentwurfs unsere Figuren einer*einem Zuhörer*in vorstellen, würden wir ihnen vermutlich sehr schnell ein Geschlecht zuordnen, ebenso wie ein gewisses Alter, eine Hautfarbe, eine soziale Schicht oder ein gewisses Umfeld, das ihren Kontext verdeutlicht, also eine komplexe Person entstehen lässt. Obwohl wir uns in unserem Buchclub – und darüber hinaus – sehr stark mit der Dekonstruktion von Stereotypen und des dualen Geschlechtersystems (also der Aufteilung in Mann und Frau) beschäftigen, waren wir unglaublich überrascht darüber, wie schnell auch unsere Köpfe den beiden Protagonist*innen ein Geschlecht zuordneten.

Stellenweise erschien es uns außerdem so, als habe sich auch Anne Garréta anderer Mechanismen bedient, um das Fehlen des Geschlechts zu kaschieren. Uns fiel besonders die häufige Thematisierung der Hautfarbe auf – Ich weiß und A*** Schwarz. Es wurde in Momenten erwähnt, aus denen keine Erklärung eines bestimmten persönlichen Hintergrundes hervorging, kein Aufzeigen bestimmter struktureller Mechanismen. Es schien an manchen Stellen lediglich der besseren Visualisierung der Personen zu dienen. Möglicherweise ist uns bei diesem Punkt aber auch etwas entfallen oder es liegt an der zeitlichen Distanz zwischen der Erstveröffentlichung des Romans 1986 und unserer Lebenswelt – fast 35 Jahre später. Dass die Hautfarbe in einer Erzählung nicht erwähnt wird, kommt deutlich häufiger vor als es bei Geschlecht der Fall ist. In den meisten Fällen werden Protagonist*innen einfach weiß gedacht.

Wie liest sich eine Liebesgeschichte ohne Geschlecht?

Abseits aller Gender-Themen sei als erstes erwähnt: Der Roman lässt sich flüssig lesen, das Aussparen voller Namen und jeglicher Pronomen mit Bezug auf Ich und A*** stört überhaupt nicht. So kompliziert das Schreiben und Übersetzen gewesen sein mögen – als Leser*in merkt man davon nichts.

Was eine*n jedoch durchweg ins Grübeln stürzt, sind die Beschreibungen innerhalb der Erzählung – seien es Äußerlichkeiten, Handlungen oder Charakterzüge der beiden Figuren. Wie ein nicht beauftragter Detektiv (denn es wäre ja durchaus denkbar, sich einfach auf die Geschichte zweier Menschen einzulassen, ohne deren Geschlecht zu kennen) schließt der Kopf automatisch auf ihm bekannte Stereotype, die sich im Laufe der Handlung festigen, an anderer Stelle jedoch widersprechen: Wenn Ich Theologie studiert (wohlgemerkt in den 80er Jahren, als der Roman erschien), handelt es sich dann nicht wahrscheinlich um einen Mann? Wenn A*** versucht einer sexuellen Beziehung auszuweichen, um die Freundschaft nicht zu gefährden, denken wir dann nicht eher an eine Frau? Und was verrät uns der Handlungsort, das flirrende Nachtleben der Pariser Rive Gauche, wo sich in den 80er Jahren viele lesbische Paare vergnügten?

Die Antwort auf alle Fragen ist einfach: Diese Merkmale verraten wenig, in den meisten Fällen sogar rein gar nichts über das Geschlecht. Die Fragilität dieser Theorie freier Gender-Auslebung, frei von Stereotypen, wie wir sie in jedem Gespräch bis aufs letzte verteidigen würden, wurde uns durch das Lesen dieses Romans immer wieder vor Augen geführt – und zwar in unseren eigenen, vermeintlich aufgeklärten Köpfen.

Daher von unserer Seite eine ganz klare Empfehlung: Lies diesen Roman, hinterfrage deine Ansichten und die Stereotype in deinem Denken und tausche dich danach unbedingt mit anderen darüber aus, um eine womöglich festgefahrene Sichtweise auf die beiden Hauptfiguren aufzulockern.

Das Ergebnis unseres Buchchlub-Treffens

Wie bereits angedeutet, war dieses Buchclub-Treffen ein besonders aufschlussreiches. Denn statt über im gelesenen Buch aufgestellte Theorien zu sprechen, mussten wir uns selbst hinterfragen und mit unserer Ausdrucksweise kämpfen. Geschlechtsneutral über Ich und A*** zu reden, hat uns an unsere sprachlichen Grenzen gebracht und uns die erlernten Automatismen der uns umgebenden Gesellschaft aufgezeigt. Nur unter größter Konzentration schafften wir es, alle Möglichkeiten offen zu halten. Da sich ein „sie“ oder „er“ nicht durchgehend vermeiden ließ, merkten wir schnell, dass wir die gleichen Vorstellungen davon hatten, welche Figur welches Geschlecht haben müsse. Aus diesem Umstand heraus ergab sich eine kleine Ernüchterung bei uns. Erwartet hatten wir größere Diskrepanzen, eine größere Herausforderung beim Lesen und nicht, dass sich für uns schon in den ersten Kapiteln ein so deutliches Bild ergeben würde.

Die Arbeit begann also nach dem Lesen: Gemeinsam versuchten wir, unsere mittlerweile verfestigten Vorstellungen zu dekonstruieren, untersuchten einige Textpassagen noch einmal gemeinsam und lasen sie gezielt aus einem anderen Blickwinkel. Vor allem aber bemühten wir uns, aus dem allseits bekannten Mann-Frau- (bzw. Mann-Mann oder Frau-Frau) Schema auszubrechen. Könnte es sich nicht auch um eine intersexuelle, nicht-binäre oder trans Person handeln? Weist Anne Garrétas Widmung „To the Third“ auf der ersten Seite des Buches nicht sogar sehr deutlich darauf hin? Bezeichnet sich Ich nicht selbst als „Transe im Sich-Vergrübeln“? (S. 129) Sangen die beiden Protagonist*innen nicht gemeinsam „You’ve been reachin‘ for yourself for such a long time. No need to explain, I’m not here to blame […]“? (S. 155)

Schlussendlich ist uns vor allem eines aufgefallen: Wie unfähig wir waren, diese Geschichte zweier Menschen einfach als geschlechtslose zu akzeptieren. Und diese Tatsache regt definitiv zum Nachdenken an.