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Buchrezension von Feministisches Lesen zu “Sphinx” von Anne Garréta

Buchrezension von Feministisches Lesen zu “Sphinx” von Anne Garréta

Die FrauenGenderBibliothek Saar präsentiert eine Rezension von www.feministischeslesen.de zu “Sphinx” von Anne Garréta. Das Buch steht bei uns zur Ausleihe bereit.

Rezension von Tanja:

Hast du schon einmal eine Liebesgeschichte gelesen, bei der das Geschlecht der beiden Protagonist*innen kein einziges Mal genannt wurde? Für uns war es das erste Mal.

Anne Garréta hat mit ihrem Roman „Sphinx“ genau das geschaffen – und zwar schon 1986. Mitte der 2010er Jahre erhielt das Buch mit seiner noch immer aktuellen Thematik erneut jede Menge Aufmerksamkeit, als es aus dem Französischen erstmals ins Englische (2015) und Deutsche (2016) übersetzt wurde. Keine leichte Aufgabe, denn rein grammatikalisch betrachtet findet sich auf 184 Seiten kein einziger Hinweis darauf, welches Geschlecht die Erzählinstanz und deren große Liebschaft A*** haben. Kein Pronomen – keine Thematisierung des Geschlechts.

Und doch sei beim Korrektorat kaum aufgefallen, dass sich in die englische Übersetzung vor deren Veröffentlichung an zwei Stellen ein kleines „her“ eingeschlichen hatten. Die Übersetzerin Emma Ramadan – und mit ihr die Lektoratsabteilung – scheinen also trotz des Drahtseilakts des Schweigens der Autorin ein recht genaues Bild im Kopf gehabt zu haben, an welcher Stelle es sich um eine handelt. Nach unserer Lektüre des Romans können wir ihr Kopfkino nur zu gut nachvollziehen.

Lesen erzeugt Bilder im Kopf

Wann hast du zuletzt eine Buchverfilmung angeschaut und warst mit der Auswahl der Schauspieler*innen so gar nicht zufrieden? Figur x wurde im Buch doch brünett und rundlich beschrieben, Person y müsste deutlich größer sein und im schlimmsten, aber leider nicht seltenen Falle: Warum um alles in der Welt spielt ein*e weiße*r Schauspieler*in eine BIPoC-Figur? Diese Diskrepanz entsteht einerseits durch die viel zu heteronormative Filmbranche, andererseits aber auch aus unseren Vorstellungen heraus. Beim Lesen entstehen in unseren Köpfen Bilder, die Kreativität wird angeregt, wir stellen uns anhand der Beschreibungen der*des Autor*in – und manchmal auch darüber hinaus – genau vor, wie die Figuren der Erzählung wohl aussehen mögen und welche Handlungen ihrem Charakter entsprechen. Werden uns Informationen vorenthalten, versuchen wir – bewusst oder unbewusst – diese aus dem Kontext zu erschließen und die weißen Flecken des Storyboards mit Leben zu füllen.

Eine häufig beschrittene Ebene, die zur Kategorisierung und Beschreibung von Menschen genutzt wird, ist das Geschlecht. Würden wir im Zuge eines eigenen Buchentwurfs unsere Figuren einer*einem Zuhörer*in vorstellen, würden wir ihnen vermutlich sehr schnell ein Geschlecht zuordnen, ebenso wie ein gewisses Alter, eine Hautfarbe, eine soziale Schicht oder ein gewisses Umfeld, das ihren Kontext verdeutlicht, also eine komplexe Person entstehen lässt. Obwohl wir uns in unserem Buchclub – und darüber hinaus – sehr stark mit der Dekonstruktion von Stereotypen und des dualen Geschlechtersystems (also der Aufteilung in Mann und Frau) beschäftigen, waren wir unglaublich überrascht darüber, wie schnell auch unsere Köpfe den beiden Protagonist*innen ein Geschlecht zuordneten.

Stellenweise erschien es uns außerdem so, als habe sich auch Anne Garréta anderer Mechanismen bedient, um das Fehlen des Geschlechts zu kaschieren. Uns fiel besonders die häufige Thematisierung der Hautfarbe auf – Ich weiß und A*** Schwarz. Es wurde in Momenten erwähnt, aus denen keine Erklärung eines bestimmten persönlichen Hintergrundes hervorging, kein Aufzeigen bestimmter struktureller Mechanismen. Es schien an manchen Stellen lediglich der besseren Visualisierung der Personen zu dienen. Möglicherweise ist uns bei diesem Punkt aber auch etwas entfallen oder es liegt an der zeitlichen Distanz zwischen der Erstveröffentlichung des Romans 1986 und unserer Lebenswelt – fast 35 Jahre später. Dass die Hautfarbe in einer Erzählung nicht erwähnt wird, kommt deutlich häufiger vor als es bei Geschlecht der Fall ist. In den meisten Fällen werden Protagonist*innen einfach weiß gedacht.

Wie liest sich eine Liebesgeschichte ohne Geschlecht?

Abseits aller Gender-Themen sei als erstes erwähnt: Der Roman lässt sich flüssig lesen, das Aussparen voller Namen und jeglicher Pronomen mit Bezug auf Ich und A*** stört überhaupt nicht. So kompliziert das Schreiben und Übersetzen gewesen sein mögen – als Leser*in merkt man davon nichts.

Was eine*n jedoch durchweg ins Grübeln stürzt, sind die Beschreibungen innerhalb der Erzählung – seien es Äußerlichkeiten, Handlungen oder Charakterzüge der beiden Figuren. Wie ein nicht beauftragter Detektiv (denn es wäre ja durchaus denkbar, sich einfach auf die Geschichte zweier Menschen einzulassen, ohne deren Geschlecht zu kennen) schließt der Kopf automatisch auf ihm bekannte Stereotype, die sich im Laufe der Handlung festigen, an anderer Stelle jedoch widersprechen: Wenn Ich Theologie studiert (wohlgemerkt in den 80er Jahren, als der Roman erschien), handelt es sich dann nicht wahrscheinlich um einen Mann? Wenn A*** versucht einer sexuellen Beziehung auszuweichen, um die Freundschaft nicht zu gefährden, denken wir dann nicht eher an eine Frau? Und was verrät uns der Handlungsort, das flirrende Nachtleben der Pariser Rive Gauche, wo sich in den 80er Jahren viele lesbische Paare vergnügten?

Die Antwort auf alle Fragen ist einfach: Diese Merkmale verraten wenig, in den meisten Fällen sogar rein gar nichts über das Geschlecht. Die Fragilität dieser Theorie freier Gender-Auslebung, frei von Stereotypen, wie wir sie in jedem Gespräch bis aufs letzte verteidigen würden, wurde uns durch das Lesen dieses Romans immer wieder vor Augen geführt – und zwar in unseren eigenen, vermeintlich aufgeklärten Köpfen.

Daher von unserer Seite eine ganz klare Empfehlung: Lies diesen Roman, hinterfrage deine Ansichten und die Stereotype in deinem Denken und tausche dich danach unbedingt mit anderen darüber aus, um eine womöglich festgefahrene Sichtweise auf die beiden Hauptfiguren aufzulockern.

Das Ergebnis unseres Buchchlub-Treffens

Wie bereits angedeutet, war dieses Buchclub-Treffen ein besonders aufschlussreiches. Denn statt über im gelesenen Buch aufgestellte Theorien zu sprechen, mussten wir uns selbst hinterfragen und mit unserer Ausdrucksweise kämpfen. Geschlechtsneutral über Ich und A*** zu reden, hat uns an unsere sprachlichen Grenzen gebracht und uns die erlernten Automatismen der uns umgebenden Gesellschaft aufgezeigt. Nur unter größter Konzentration schafften wir es, alle Möglichkeiten offen zu halten. Da sich ein „sie“ oder „er“ nicht durchgehend vermeiden ließ, merkten wir schnell, dass wir die gleichen Vorstellungen davon hatten, welche Figur welches Geschlecht haben müsse. Aus diesem Umstand heraus ergab sich eine kleine Ernüchterung bei uns. Erwartet hatten wir größere Diskrepanzen, eine größere Herausforderung beim Lesen und nicht, dass sich für uns schon in den ersten Kapiteln ein so deutliches Bild ergeben würde.

Die Arbeit begann also nach dem Lesen: Gemeinsam versuchten wir, unsere mittlerweile verfestigten Vorstellungen zu dekonstruieren, untersuchten einige Textpassagen noch einmal gemeinsam und lasen sie gezielt aus einem anderen Blickwinkel. Vor allem aber bemühten wir uns, aus dem allseits bekannten Mann-Frau- (bzw. Mann-Mann oder Frau-Frau) Schema auszubrechen. Könnte es sich nicht auch um eine intersexuelle, nicht-binäre oder trans Person handeln? Weist Anne Garrétas Widmung „To the Third“ auf der ersten Seite des Buches nicht sogar sehr deutlich darauf hin? Bezeichnet sich Ich nicht selbst als „Transe im Sich-Vergrübeln“? (S. 129) Sangen die beiden Protagonist*innen nicht gemeinsam „You’ve been reachin‘ for yourself for such a long time. No need to explain, I’m not here to blame […]“? (S. 155)

Schlussendlich ist uns vor allem eines aufgefallen: Wie unfähig wir waren, diese Geschichte zweier Menschen einfach als geschlechtslose zu akzeptieren. Und diese Tatsache regt definitiv zum Nachdenken an.

Posted by petrastein in Neu im Bestand
Buchrezension von Boob Books zu “Im Park der prächtigen Schwestern” von Camila Sosa Villada

Buchrezension von Boob Books zu “Im Park der prächtigen Schwestern” von Camila Sosa Villada

Die FrauenGenderBibliothek Saar präsentiert eine Rezension von www.boobbooks.de zu “Im Park der prächtigen Schwestern” von Camila Sosa Villada.
Das Buch steht bei uns zur Ausleihe bereit.

Rezension von Nicole:

Worum geht’s?
Argentinien, Córdoba, die 90er-Jahre: Nur nachts kann Camila ihrer Identität als Transfrau Ausdruck verleihen. Zuhause hat der gewalttätige Vater (aka Patriarch der Familie) das Sagen, während die Mutter schweigend zuschaut. Vom Hass ihrer Umgebung verjagt, findet Camila schließlich einen Ort, wo sie ihresgleichen trifft. Ihre Wahlfamilie besteht aus Sexarbeitenden und Marginalisierten; starken Frauen*, die sich mithilfe von Solidarität und Lebensfreude gegen Gewalt und Ausgrenzung wehren. Jede Person innerhalb der Transgender-Gruppe hat ihre eigene Geschichte, ihr eigenes Leid. Gemeinschaft und Schwesterlichkeit lindern etwas davon.

„Wenn eine von uns traurig war, dann lud Angie sie auf was Warmes zu trinken ins nächste Lokal ein und sagte: ››Transsein ist ein Fest, meine Liebe, sieh nur, wie alle uns anstarren‹‹.“ (Im Park der prächtigen Schwestern Camila Sosa Villada)

Camila nimmt uns mit und zeigt uns das Leben im Sarmiento-Park, das Zusammenfinden und -leben, erzählt von Tía Encarna, die in dem Moment Mutter wird, als sie ein Baby im Gestrüpp findet. Sie erzählt von María, die sich langsam in einen Vogel verwandelt. Camila zeigt uns ihr Leben, ihre Maskerade, wie sie versucht, ihre trans*-Identität als Studentin zu verbergen, während sie in den Nächten als Sexarbeiterin unterschiedlichsten Männern begegnet. Mit manchen von ihnen hat sie Sex, weil sie sie mag, doch die meisten Männer tun ihr Gewalt an.

Was Villadas Roman eigentlich tut, ist die Heuchelei der argentinischen Gesellschaft zu enthüllen. Während trans*-Menschen wie Villada tagsüber verspottet und ausgegrenzt werden, kommen nachts dann insbesondere die Männer aus der bürgerlichen Mitte an, um ihre Bedürfnisse nach Sex, Erniedrigung und Macht auszuspielen.

Gelesen auf: Deutsch
Nase zwischen den Seiten: 3 Abende und eine Mittagspause
Seitenanzahl: 220
Preis: 14,95 € (D)
Erschienen im Januar 2021 beim suhrkamp-taschenbuch-Verlag
Übersetzt: Aus dem Spanischen von Svenja Becker

Leseerlebnis:
Buchdeckel zuklappen. Innehalten. Wieder einsteigen. Das Lesen fühlte sich an mancher Stelle an, als würde ich durch die Seiten voller poetischer Sätze sprinten, bis mich eine Gewalts- oder Missbrauchsszene zum Durchatmen zwang. Also, „Fuck“ sagte ich bei diesem Buch nicht nur einmal.

Boobscore: 4 von 5 Boobs ( • ) ( • ) ( • ) ( • )

Halleluja! Ick bin ja so froh, dass endlich Bücher von trans*-Personen aus dem globalen Süden verlegt werden. Villadas Roman kriegt vier wunderschöne Boobs von mir, die ich ihr gerne kniend darbieten würde, aus Bewunderung für diesen Roman und den (ach!) tollen Schreibstil. Als Roman/teils Memoir schreit er nicht von jeder Seite INTERSEKTIONALER FEMINISMUS, sondern zeichnet das Leben von starken trans*-Personen und Sexarbeitenden in Argentinien nach. Wir bekommen ein Porträt, welches Missstände beleuchtet und uns vor Augen hält, wie wichtig Solidarität und Schwesternschaft ist – insbesondere wenn man von der Mehrheitsgesellschaft ausgegrenzt wird. „Im Park der prächtigen Schwestern“ ist zwar ein poetisches aber kein kämpferisches Manifest. Denn irgendwann gehen die Schwestern vom Sarmiento-Park ihre eigenen Wege und verlieren sich aus den Augen, obwohl sie sich brauchen.

Literarisches Feuerwerk?
Unbedingt und hundert Prozent! Die Wörter fließen, richtige Sogwirkung, der ich mich nicht entziehen konnte. Inhaltlich harter Tobak, poetisch verpackt.

Stoff zum Nachdenken:
Man hofft und fragt sich ständig: Gibt es inzwischen mehr Akzeptanz für trans*-Personen in Argentinien? Wie sieht die Situation in anderen Ländern aus, hier in Deutschland zum Beispiel? Besondere Schocker-Momente sind auf jeden Fall die dargestellten Erlebnisse von Sexarbeiter*innen. Wie kann man Sexarbeitende schützen, wie stärken und ihre Arbeitsbedingungen verbessern? Und wie kriegen wir’s hin, dass Menschen sich nicht prostituieren müssen, wenn sie nicht wollen? Jo, also der intersektionale Blick lohnt sich mal wieder: Diese Dynamik zwischen der Ablehnung von bestimmten Geschlechtsidentitäten seitens der Mehrheitsgesellschaft und Armut macht einen krass wütend und verdeutlicht nur, dass feministische Kämpfe nur gemeinsam ausgefochten werden können, in Solidarität.

Bestes Geschenk für
… all diejenigen, die ihre Leseerfahrung mit Perspektiven von trans*-Personen aus dem Globalen Süden bereichern wollen. Menschen, die kein Bock darauf haben, würde ich es trotzdem in die Hand drücken 😉

Happy Hour
Puh, ich schwanke zwischen Kamillen-Tee und `nem Schluck Whisky, um die Nerven zu beruhigen.

Zu dieser Lebenslage passt das Buch
Schwiiiiierig zu sagen. Am besten liest man Villadas Roman, wenn man sich nicht in einer Weltschmerz-Phase befindet.

A little Bio never killed nobody
Camila Sosa Villada wurde 1982 in der argentinischen Provinz Córdoba geboren und arbeitete als Sexarbeiterin, bevor ihr mit einem selbstproduzierten Theaterstück über ihr Leben als Transgender der schauspielerische Durchbruch gelang. Seitdem spielt sie Rollen für Film, Fernsehen und Theater, schreibt Gedichte und Romane, und gehört zu den bekanntesten Gesichtern der Trans-Community in Lateinamerika.

Das sagt Nicole über sich:
Mein Herz schlägt ja ziemlich laut für Literatur, insbesondere für feministische Sachen. Deswegen könnte ich mir immer wieder in den Arsch beißen, dass ich mich der Politikwissenschaft verschrieben habe und nicht der Literatur. Freue mich daher riesig, beide Welten bei Boob Books Ausdruck zu verleihen.

Posted by petrastein in Neu im Bestand
Neu: Buchrezensionen in Kooperation mit „Boob Books“ und „Feministisches Lesen“

Neu: Buchrezensionen in Kooperation mit „Boob Books“ und „Feministisches Lesen“

In Zukunft werden wir hier regelmäßig Buchrezensionen der beiden saarländischen Literaturblogs „Boob Books“ (www.boobbooks.de) und „Feministisches Lesen“ (www.feministischeslesen.de) zu ausgewählten Büchern, die wir neu im Ausleihbestand haben, präsentieren.

Wir empfehlen unbedingt auch die weiteren Rezensionen der Blogs zu lesen und / oder ihren Instagram-Accounts zu folgen!

Für den Start haben wir ausgewählt:

„Mädchen, Frau etc.“ von Bernardine Evaristo

und

„Kindheit – Teil 1 der Kopenhagen-Trilogie” von Tove Ditlevsen

Wir wünschen gute Lektüre!

Posted by petrastein in Neu im Bestand
Neu im Bestand: Standardwerk der Ur- und Frühgeschichtsforscherin Marie E.P. König

Neu im Bestand: Standardwerk der Ur- und Frühgeschichtsforscherin Marie E.P. König

Dank einer Spende können wir das Standardwerk der Ur- und Frühgeschichtsforscherin Marie E.P. König in unseren Bestand aufnehmen und damit eine Lücke schließen:
Marie E.P.König: Am Anfang der Kultur. Die Zeichensprache des frühen Menschen, Gebr. Mann Verlag Berlin, 1973 – mit Original-Unterschrift der Autorin!
Die Erinnerung an diese Ausnahme-Wissenschaftlerin wachzuhalten, beschäftigt die FGBS schon seit langem:
Dr. Annette Keinhorst, Vorständin, veröffentlichte im DDF ein Essay zu Marie E.P.König: Eine Forscherin auf der Suche nach dem (weiblich geprägten) Anfang der Kultur, das war die Saarbrückerin Marie E. P.König, deren Thesen in der Neuen Frauenbewegung großen Anklang fanden: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/akteurinnen/marie-ep-koenig

Auch bei den Vorschlägen zur Straßenbenennung nach Frauen ist Marie E.P. König dabei:  FrauenSichtenGeschichte (Hrsg.): … wegweisend. Mehr FrauenStraßenNamen für Saarbrücken! 2. Aufl. 2011, S. 28

Posted by petrastein in Neu im Bestand
Buchrezension von Feministisches Lesen zu “Mädchen, Frau etc.“ von Bernardine Evaristo

Buchrezension von Feministisches Lesen zu “Mädchen, Frau etc.“ von Bernardine Evaristo

Die FrauenGenderBibliothek Saar präsentiert eine Rezension von www.feministischeslesen.de zu “Mädchen, Frau etc.“ von Bernardine Evaristo. Der Roman steht bei uns zur Ausleihe bereit.

Rezension von Luca:

„Mädchen, Frau etc.“ von Bernardine Evaristo

Die Autorin unseres Maibuches wurde 1958 als viertes von acht Geschwistern geboren. Ihre Eltern sind aus England und Nigeria. Evaristo hat schon eine ganze Karriere als Schriftstellerin aufs Parkett gelegt. „Mädchen, Frau etc.“ ist ihr achter Roman. Neben diesen Büchern, schrieb sie bereits zahlreiche Essays und ist journalistisch tätig. Heute lebt sie zusammen mit ihrem Ehemann in London.

Nicht überraschend also, dass Evaristo den beliebten Booker Prize im Jahr 2019 gewann. Die Auszeichnung ist die bedeutendste im englischsprachigen Raum. Gekürt wird seit 1969 jährlich der beste englischsprachige Roman, der im Vereinten Königreich veröffentlicht wurde. Die Autorin ist die erste Schwarze Autorin, die den Preis entgegennehmen durfte. Mittlerweile ist ihr Roman in über 50 Sprachen übersetzt.

Zum Buch

Der Roman widmet sich in fünf Kapiteln den Leben von zwölf Schwarzen Frauen (Spoiler: Es wird auch die Geschichte einer nicht-binären Person erzählt). Diese werden in den ersten vier Kapiteln in ähnlicher Manier vorgestellt. Als lesende Person bekommt man immer einen Einblick in das aktuelle Alltagsleben dieser Frauen. Außerdem wird ihre Kindheit, manchmal sogar die Geschichte ihrer Eltern erzählt. Spannend wird es nicht nur durch die unvergleichlichen Lebenswege, die man in den einzelnen Kapiteln begleiten darf, sondern durch die direkte oder indirekte Verknüpfung dieser Geschichten zu einem Gesamtkontext. Das letzte Kapitel schließt an die erste erzählte Perspektive an, bildet somit einen wunderbaren Rahmen um das Buch, macht aber auch möglich, dass sich eine Großzahl der Charaktere in einem Raum gegenübersteht. Für mich also sowas wie der finale Showdown des Buches.

Aber erst mal zurück zum Anfang. Nach und nach öffnen sich Wege zwischen den Leben der Frauen. Dabei ist eine Struktur zu erkennen. In jedem der vier ersten Kapitel, werden jeweils drei Geschichten erzählt. Zwei davon immer die Erzählweise von Mutter und Tochter. Dabei wird mal der Mutter, mal der Tochter der Vortritt gelassen. Besonders aufregend an dieser Schreibweise ist, dass man die Charaktere vielseitig beleuchten kann. Im Gegensatz zu Romanen mit einer einzelnen Perspektive, ist es hier nicht nötig auf das Erzählte als absolute Wahrheit zu vertrauen. Ich habe im Verlauf der knapp 500 Seiten realisiert, dass mir jede Geschichte nur einen Blickwinkel bietet und dass dieser durch eine weitere Sichtweise in Frage gestellt, bestätigt oder sogar negiert werden kann. Dazu kommt, dass diese Erzählweise es ermöglicht, Sympathie oder Antipathie mit den Figuren zu empfinden. Faszinierend dabei auch, wie die gleiche Situation von unterschiedlichen Generationen wahrgenommen wird.

Dass diese Prägung in die Leben der Charaktere mit hineinspielt zeigt das Buch hervorragend. Es gibt Kontexte, da merkt man, dass versucht wird sich in die weiße Lebenswirklichkeit einzugliedern. Hier wird es gern gesehen, wenn die Familie, Generation für Generation dem vermeintlichen westeuropäischen Schönheitsideal immer näher rückt. Genauso gibt es aber auch die Erzählweisen, in denen es verletzend ist, wenn sich die Tochter von der eigenen kulturellen Herkunft entfremdet.

Ein Merkmal, welches das Buch zu einem besonderen Leseerlebnis für mich gemacht hat, ist der Fakt, dass die Autorin nicht nur die Hauptcharaktere immer wieder in andere Kontexte einfließen lässt, sondern auch die Nebencharaktere. Als lesende Person hatte ich das Gefühl auch sie besser kennenzulernen. Außerdem bieten sie nochmals Verknüpfungspunkte zwischen den unterschiedlichen Lebensgeschichten.

Da es so viele Überschneidungen gibt, kann es jedoch irgendwann etwas kompliziert werden mitzukommen wer denn da jetzt mit wem, wie verwandt oder befreundet ist. Dazu kommt, dass sich diese Querverbindungen über die ganzen 500 Seiten erstrecken. Wir haben uns also am Ende des Buches ganz klassisch eine Personenkonstellation gemacht, um einen Überblick zu erhalten.

Warum ist „Mädchen, Frau etc.“ ein feministischer Roman?

Dadurch, dass die Charaktere so unterschiedlich gestrickt sind, sind die Themenfelder, die aufgegriffen werden, ähnlich vielfältig. Wie oben bereits erwähnt spielen Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen eine Rolle. Darüber hinaus finden sich aber durchaus auch noch andere feministische Themenkomplexe wieder. Ein Kapitel widmet sich so zum Beispiel dem Thema toxische Beziehung. Interessant daran für mich vor allem, dass nicht das klassische Bild einer heterosexuellen Beziehung widergespiegelt wird, in der der Mann der Aggressor ist. Hier handelt es sich nämlich um eine lesbische Beziehung.

Neben diesem sehr lesenswerten Kapitel, gab es noch eins, was besonders meine Aufmerksamkeit erregt hat. Überschrieben ist es mit dem Titel „Megan/Morgan“, fällt damit schon auf, da alle anderen nur mit einem einzigen Namen benannt sind. Diese Geschichte widmet sich dem Leben einer non-binären Person. Neben zahlreichen trans Thematiken, die erläutert werden (Morgan verortet sich im trans Spektrum), ist es vor allem die Sprache, die ich als bemerkenswert empfand. Im Kapitel wird nämlich das genderneutrale Pronomen „sier“ benutzt. Natürlich nur angebracht, da Morgan non-binär ist, für mich aber dennoch etwas Besonderes, da es das erste Mal ist, dass ich sier angewandt in einem Roman zu sehen bekam. Evaristo schafft so eine vermeintliche Hürde ab.

Generell sind die Menschen im Buch sehr divers. Yazz, die zweite Perspektive des Buches, ist das Kind einer lesbischen Frau und eines schwulen Mannes (übrigens so ziemlich der einzige Mann, dessen Sichtweise im Buch geschildert wird). Morgan ist in einer Beziehung mit einer trans Frau, und auch das Thema Polyamorie findet in einem Kapitel kurz Erwähnung. Extrem angenehm zu lesen, denn auch hier findet sich keine stereotypische Darstellung, kein Gefühl von Konstruktion kommt auf. Sexualität wird nicht als in Stein gemeißelt beschrieben, sondern als etwas „Fließendes“. So kommt es, dass Bummi mit Mitte 50 zum ersten Mal in Erwägung zieht, dass sie auch romantische Gefühle für eine andere Frau entwickeln kann. Ihrer Tochter verrät sie von ihrer Beziehung jedoch nichts, denn die ist sehr konservativ eingestellt, würde sie also nicht verstehen. Auch hier werden die klassischen Rollenbilder umgedreht.

Unser Fazit zu „Mädchen, Frau etc.“

Auch unser Austausch nach dem Lesen des Buches gestaltete sich anders, als wir es normalerweise angehen. Anstatt einzelne Stellen herauszusuchen und uns über markierte Passagen zu unterhalten, lag unser Fokus auf etwas anderem. Wir waren viel interessierter daran zu erfahren, wem welcher Charakter am besten gefallen hat und warum das so war. Wir haben uns über die Beziehungen der Menschen in diesem Buch unterhalten, als seien es Freund*innen oder Bekannte aus unserem Umfeld. So lebhaft und echt sind die Figuren gestaltet.

Die Form des Romans war ein weiterer Punkt, den wir nicht auslassen konnten. Da es keine Interpunktion und somit auch keine Großbuchstaben am Satzanfang gibt, ist der Lesefluss am Anfang erst mal gestört. Als lesende Person muss man sich daran gewöhnen, wie die „radical experimental novel“, wie die Autorin den Roman selbst nennt, geschrieben ist. Aber hat man sich daran gewöhnt, sorgt die Form wohl für ein weiteres Alleinstellungsmerkmal des Buches

Das Ende des Buches kommt in die Kategorie „too good to be true“, aber irgendwie macht es der positiven Leseerfahrung keinen Abbruch. Man freut sich mit den Figuren, leidet mit ihnen, also wünscht man sich ein Happy End für alle von ihnen. So schlug ich das Buch mit einem warmen Gefühl in der Magengrube zu. Ich kann nicht anders, als eine klare Leseempfehlung auszusprechen. Für wen? Für alle.

„Man wünscht sich für jede einzelne Person ein eigenes Buch.“ , so das Fazit von unserem Buchclubmitglied Natalie. Da habe ich nichts mehr hinzuzufügen.

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Buchrezension von Boob Books zu “Kindheit – Teil 1 der Kopenhagen-Trilogie” von Tove Ditlevsen

Buchrezension von Boob Books zu “Kindheit – Teil 1 der Kopenhagen-Trilogie” von Tove Ditlevsen

Die FrauenGenderBibliothek Saar präsentiert eine Rezension von www.boobbooks.de zu “Kindheit – Teil 1 der Kopenhagen-Trilogie” von Tove Ditlevsen. Alle drei Bücher der Trilogie stehen bei uns zur Ausleihe bereit.

Rezension von Marieke Fiala:

Worum geht’s?
Die kleine Tove wächst in Kopenhagens Arbeitermilieu der 1920er Jahre auf. Zusammen mit ihrem älteren Bruder Edvin und ihren Eltern lebt sie auf engstem Raum, ohne Privatsphäre. Die gesellschaftlichen Normen beeinflussen ihr Leben ungemein, denn sie weiß, dass sie als Frau* nicht den gleichen Stellenwert wie ein Mann* hat, dass ihr Lebensweg von ihren Eltern bestimmt wird. Trotzdem träumt sie von einer Karriere als erfolgreiche Dichterin und beginnt, heimlich Gedichte zu schreiben.

“Irgendwann möchte ich all die Wörter aufschreiben, die mich durchströmen. Irgendwann werden andere Menschen sie in einem Buch lesen und sich darüber wundern, dass ein Mädchen doch Dichter werden konnte.” (Tove Ditlevsen „Kindheit“)

Gelesen auf: Deutsch
Nase zwischen den Seiten: 3 Abende
Seitenanzahl: 120
Preis: 18,00€ (D)
Erschienen im Januar 2021 beim Aufbau Verlag
ISBN: 978-3-351-03868-7

Tipps & Tits
Das Nachwort der Übersetzerin Ursel Allenstein gibt einen guten Einblick in die Biografie der Autorin, der mir sehr gut gefallen hat! Er macht auch Lust auf die nächsten zwei Teile der Kopenhagen-Trilogie Jugend und Abhängigkeit.

Boobscore: 4 von 5 Boobs ( ) ( ) ( ) ( )

Kindheit ist kurz und trotzdem voller spannender Themen, erzählt aus der Sicht eines kleinen Mädchens, das in einer Welt aufwächst, in der die Ungleichheit von Männern* und Frauen* Alltag ist und das eigene Leben von den Eltern bzw. der Gesellschaft bestimmt wird. Dass eine Frau* Schriftstellerin werden könnte, ist in dieser Welt nicht vorgesehen. Die kleine Tove liest und schreibt heimlich, ist anders als alle anderen. Sie sucht nach der Liebe ihrer Mutter, nach Anerkennung ihres Bruders – und vor allem nach dem eigenen Glauben an sich und ihr Talent. Ich habe das Buch eher in kleinen Etappen gelesen, da ich oft innegehalten, nachgedacht und mich selbst wiedererkannt habe.

Es wirkt nicht wie ein gezielt feministisches Buch, eher schreibt Tove Ditlevsen, die in Dänemark eine wichtige Vertreterin und Vorreiterin eines unabhängigen Lebens der Frauen* war, schlicht und einfach über ihre eigenen Erlebnisse. Schon als Kind scheint sie verfestigte soziale Konstrukte hinterfragt zu haben, was im Buch durch die „kindlich naive“ Schreibweise auf eine unverfängliche und ehrliche Art eines jungen Mädchens meiner Meinung nach dennoch, oder gerade deshalb, sehr intensiv vermittelt wird.

Literarisches Feuerwerk?
Mir gefiel der Schreibstil von Tove Ditlevsen sehr gut. Es wäre interessant, die anderen Bücher der Reihe mit diesem zu vergleichen, um zu sehen, ob sich der „Ton“ verändert – schließlich schreibt sie in „Kindheit“ aus ihrer Sicht als junges Mädchen und wächst quasi mit der fortlaufenden Trilogie. Die nicht kommentierende, aber trotzdem hinterfragende Art zu Schreiben motiviert die Leser*innen zum Nachdenken und Reflektieren: Wie war meine eigene Kindheit? Wie habe ich mich in solchen Situationen gefühlt?

Ein weiterer besonderer Aspekt ist Ditlevsens bildhafte Sprache: Sie arbeitet mit sehr vielen Metaphern und Vergleichen, was zusätzlich sehr kindlich wirkt, aber auch spannend zu lesen und vor allem vorzustellen ist. Zudem mochte ich die sehr kurzen Kapitel (4-8 Seiten) sehr gerne, da sie mir Pausen zum Innehalten ermöglichten.

Stoff zum Nachdenken
Trotz der geringen Seitenzahl werden meiner Meinung nach viele wichtige Dinge thematisiert, die bestimmt viele Menschen, auch über ihre Kindheit hinaus, beschäftigt haben: Der ständige Vergleich mit dem Geschwisterkind, Vorwürfe der Eltern, die Suche nach der Liebe der Mutter. Ich habe mich vor allem in Toves Gedanken über ihren “seltsamen” Charakter wiedergefunden. Ihre Suche nach einem Weg heraus aus dem traditionellen Weltbild fand ich sehr inspirierend.

Bestes Geburtstagsgeschenk für
… alle Menschen, die gern über ihre eigene Kindheit sinnieren möchten.

Happy Hour
Während die kleine Tove von ihrer Kindheit erzählt, wird man selbst fast wieder zum kleinen Kind – ein heißer Kakao passt perfekt.

Zu dieser Lebenslage passt das Buch
Ich denke, dass das Buch gut geeignet ist, um über das eigene Leben und die eigene Kindheit nachzudenken und auch mal zu vergleichen: Wie haben sich traditionelle Lebensbilder verändert? War ich frei in meinen Entscheidungen? Wenn nicht: Kann ich jetzt etwas ändern?

A little Bio never killed nobody
Tove Ditlevsen wurde 1917 in Kopenhagen als Arbeiterkind geboren und arbeitete vorerst als Dienstmädchen und Bürogehilfin. Bereits in ihrer Jugend schrieb sie Gedichte. In ihren autobiografischen Romanen verarbeitet sie ihr Leben: Ihre Kindheit, ihre Jugend und auch ihre Suchterkrankungen. Obwohl sie von Kritikern als überholt bezeichnet wurde, wurden ihre Bücher stets gut verkauft und vor allem von den weiblichen Leserinnen sehr geschätzt. 1976 nahm sie sich das Leben.

Dieser Beitrag ist von unserer Gastbloggerin Marieke. Das schreibt Marieke über sich:
Ich bin ein Bücherei-Kind. Als ich jünger war, habe ich die komplette Kinder- und Jugendabteilung unserer kleinen Dorfbücherei verschlungen. Vor allem Fantasy-Bücher hatten es mir damals angetan. Heute lese ich querbeet. Ich leihe übrigens immer noch lieber, statt zu kaufen. Das ist nachhaltig, günstig – und die Vorstellung, mit den anderen Menschen, die das Buch vor mir gelesen haben, irgendwie verbunden zu sein, finde ich toll. Trotz meiner Liebe zum Lesen und Schreiben entschied ich mich für ein gesundheitswissenschaftliches Studium. Mein Herz schlägt aber vor allem für Literatur, Theater und Kunst. Mittlerweile mache ich ein redaktionelles Volontariat im Print- und Onlinejournalismus. Perfekt für Menschen wie mich, die sich für die unterschiedlichsten Dinge interessieren! Mehr über Marieke erfahrt ihr auf ihrer Website: www.marieke-fiala.de.

Posted by petrastein in Neu im Bestand
Neu in der Ausleihe

Neu in der Ausleihe

  • Dennis Krämer: Intersexualität im Sport – mediale und medizinische Körperpolitiken
  • Mithu Sanyal: Identitti
  • Sharon Dodua Otoo: Adas Raum
  • Benno Gammerl: Anders fühlen: Schwules und lesbisches Leben in der Bundesrepublik – Eine Emotionsgeschichte
Posted by petrastein in Neu im Bestand
Neu im Bestand

Neu im Bestand

– Francesca Schmidt: Netzpolitik – Eine feministische Einführung

– Susanne Kaiser: Politische Männlichkeit – Wie Incels Fundamentalisten und Autoritäre für das Patriarchat mobil machen

– Jutta Allmendinger: Es geht nur geminsam! Wie wir endlich Geschlechtergerechtigkeit erreichen

– Sarah Czerney, Lena Eckert, Silke Martin (HRSG.): Mutterschaft und Wissenschaft. Die (Un-)Vereinbarkeit von Mutterbild und wissenschaftlicher Tätigkeit

– Robert Koch Institut: Gesundheitliche Lage der Frauen in Deutschland

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