Buchrezension von Feministisches Lesen zu “Mädchen, Frau etc.“ von Bernardine Evaristo

Die FrauenGenderBibliothek Saar präsentiert eine Rezension von www.feministischeslesen.de zu “Mädchen, Frau etc.“ von Bernardine Evaristo. Der Roman steht bei uns zur Ausleihe bereit.

Rezension von Luca:

„Mädchen, Frau etc.“ von Bernardine Evaristo

Die Autorin unseres Maibuches wurde 1958 als viertes von acht Geschwistern geboren. Ihre Eltern sind aus England und Nigeria. Evaristo hat schon eine ganze Karriere als Schriftstellerin aufs Parkett gelegt. „Mädchen, Frau etc.“ ist ihr achter Roman. Neben diesen Büchern, schrieb sie bereits zahlreiche Essays und ist journalistisch tätig. Heute lebt sie zusammen mit ihrem Ehemann in London.

Nicht überraschend also, dass Evaristo den beliebten Booker Prize im Jahr 2019 gewann. Die Auszeichnung ist die bedeutendste im englischsprachigen Raum. Gekürt wird seit 1969 jährlich der beste englischsprachige Roman, der im Vereinten Königreich veröffentlicht wurde. Die Autorin ist die erste Schwarze Autorin, die den Preis entgegennehmen durfte. Mittlerweile ist ihr Roman in über 50 Sprachen übersetzt.

Zum Buch

Der Roman widmet sich in fünf Kapiteln den Leben von zwölf Schwarzen Frauen (Spoiler: Es wird auch die Geschichte einer nicht-binären Person erzählt). Diese werden in den ersten vier Kapiteln in ähnlicher Manier vorgestellt. Als lesende Person bekommt man immer einen Einblick in das aktuelle Alltagsleben dieser Frauen. Außerdem wird ihre Kindheit, manchmal sogar die Geschichte ihrer Eltern erzählt. Spannend wird es nicht nur durch die unvergleichlichen Lebenswege, die man in den einzelnen Kapiteln begleiten darf, sondern durch die direkte oder indirekte Verknüpfung dieser Geschichten zu einem Gesamtkontext. Das letzte Kapitel schließt an die erste erzählte Perspektive an, bildet somit einen wunderbaren Rahmen um das Buch, macht aber auch möglich, dass sich eine Großzahl der Charaktere in einem Raum gegenübersteht. Für mich also sowas wie der finale Showdown des Buches.

Aber erst mal zurück zum Anfang. Nach und nach öffnen sich Wege zwischen den Leben der Frauen. Dabei ist eine Struktur zu erkennen. In jedem der vier ersten Kapitel, werden jeweils drei Geschichten erzählt. Zwei davon immer die Erzählweise von Mutter und Tochter. Dabei wird mal der Mutter, mal der Tochter der Vortritt gelassen. Besonders aufregend an dieser Schreibweise ist, dass man die Charaktere vielseitig beleuchten kann. Im Gegensatz zu Romanen mit einer einzelnen Perspektive, ist es hier nicht nötig auf das Erzählte als absolute Wahrheit zu vertrauen. Ich habe im Verlauf der knapp 500 Seiten realisiert, dass mir jede Geschichte nur einen Blickwinkel bietet und dass dieser durch eine weitere Sichtweise in Frage gestellt, bestätigt oder sogar negiert werden kann. Dazu kommt, dass diese Erzählweise es ermöglicht, Sympathie oder Antipathie mit den Figuren zu empfinden. Faszinierend dabei auch, wie die gleiche Situation von unterschiedlichen Generationen wahrgenommen wird.

Dass diese Prägung in die Leben der Charaktere mit hineinspielt zeigt das Buch hervorragend. Es gibt Kontexte, da merkt man, dass versucht wird sich in die weiße Lebenswirklichkeit einzugliedern. Hier wird es gern gesehen, wenn die Familie, Generation für Generation dem vermeintlichen westeuropäischen Schönheitsideal immer näher rückt. Genauso gibt es aber auch die Erzählweisen, in denen es verletzend ist, wenn sich die Tochter von der eigenen kulturellen Herkunft entfremdet.

Ein Merkmal, welches das Buch zu einem besonderen Leseerlebnis für mich gemacht hat, ist der Fakt, dass die Autorin nicht nur die Hauptcharaktere immer wieder in andere Kontexte einfließen lässt, sondern auch die Nebencharaktere. Als lesende Person hatte ich das Gefühl auch sie besser kennenzulernen. Außerdem bieten sie nochmals Verknüpfungspunkte zwischen den unterschiedlichen Lebensgeschichten.

Da es so viele Überschneidungen gibt, kann es jedoch irgendwann etwas kompliziert werden mitzukommen wer denn da jetzt mit wem, wie verwandt oder befreundet ist. Dazu kommt, dass sich diese Querverbindungen über die ganzen 500 Seiten erstrecken. Wir haben uns also am Ende des Buches ganz klassisch eine Personenkonstellation gemacht, um einen Überblick zu erhalten.

Warum ist „Mädchen, Frau etc.“ ein feministischer Roman?

Dadurch, dass die Charaktere so unterschiedlich gestrickt sind, sind die Themenfelder, die aufgegriffen werden, ähnlich vielfältig. Wie oben bereits erwähnt spielen Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen eine Rolle. Darüber hinaus finden sich aber durchaus auch noch andere feministische Themenkomplexe wieder. Ein Kapitel widmet sich so zum Beispiel dem Thema toxische Beziehung. Interessant daran für mich vor allem, dass nicht das klassische Bild einer heterosexuellen Beziehung widergespiegelt wird, in der der Mann der Aggressor ist. Hier handelt es sich nämlich um eine lesbische Beziehung.

Neben diesem sehr lesenswerten Kapitel, gab es noch eins, was besonders meine Aufmerksamkeit erregt hat. Überschrieben ist es mit dem Titel „Megan/Morgan“, fällt damit schon auf, da alle anderen nur mit einem einzigen Namen benannt sind. Diese Geschichte widmet sich dem Leben einer non-binären Person. Neben zahlreichen trans Thematiken, die erläutert werden (Morgan verortet sich im trans Spektrum), ist es vor allem die Sprache, die ich als bemerkenswert empfand. Im Kapitel wird nämlich das genderneutrale Pronomen „sier“ benutzt. Natürlich nur angebracht, da Morgan non-binär ist, für mich aber dennoch etwas Besonderes, da es das erste Mal ist, dass ich sier angewandt in einem Roman zu sehen bekam. Evaristo schafft so eine vermeintliche Hürde ab.

Generell sind die Menschen im Buch sehr divers. Yazz, die zweite Perspektive des Buches, ist das Kind einer lesbischen Frau und eines schwulen Mannes (übrigens so ziemlich der einzige Mann, dessen Sichtweise im Buch geschildert wird). Morgan ist in einer Beziehung mit einer trans Frau, und auch das Thema Polyamorie findet in einem Kapitel kurz Erwähnung. Extrem angenehm zu lesen, denn auch hier findet sich keine stereotypische Darstellung, kein Gefühl von Konstruktion kommt auf. Sexualität wird nicht als in Stein gemeißelt beschrieben, sondern als etwas „Fließendes“. So kommt es, dass Bummi mit Mitte 50 zum ersten Mal in Erwägung zieht, dass sie auch romantische Gefühle für eine andere Frau entwickeln kann. Ihrer Tochter verrät sie von ihrer Beziehung jedoch nichts, denn die ist sehr konservativ eingestellt, würde sie also nicht verstehen. Auch hier werden die klassischen Rollenbilder umgedreht.

Unser Fazit zu „Mädchen, Frau etc.“

Auch unser Austausch nach dem Lesen des Buches gestaltete sich anders, als wir es normalerweise angehen. Anstatt einzelne Stellen herauszusuchen und uns über markierte Passagen zu unterhalten, lag unser Fokus auf etwas anderem. Wir waren viel interessierter daran zu erfahren, wem welcher Charakter am besten gefallen hat und warum das so war. Wir haben uns über die Beziehungen der Menschen in diesem Buch unterhalten, als seien es Freund*innen oder Bekannte aus unserem Umfeld. So lebhaft und echt sind die Figuren gestaltet.

Die Form des Romans war ein weiterer Punkt, den wir nicht auslassen konnten. Da es keine Interpunktion und somit auch keine Großbuchstaben am Satzanfang gibt, ist der Lesefluss am Anfang erst mal gestört. Als lesende Person muss man sich daran gewöhnen, wie die „radical experimental novel“, wie die Autorin den Roman selbst nennt, geschrieben ist. Aber hat man sich daran gewöhnt, sorgt die Form wohl für ein weiteres Alleinstellungsmerkmal des Buches

Das Ende des Buches kommt in die Kategorie „too good to be true“, aber irgendwie macht es der positiven Leseerfahrung keinen Abbruch. Man freut sich mit den Figuren, leidet mit ihnen, also wünscht man sich ein Happy End für alle von ihnen. So schlug ich das Buch mit einem warmen Gefühl in der Magengrube zu. Ich kann nicht anders, als eine klare Leseempfehlung auszusprechen. Für wen? Für alle.

„Man wünscht sich für jede einzelne Person ein eigenes Buch.“ , so das Fazit von unserem Buchclubmitglied Natalie. Da habe ich nichts mehr hinzuzufügen.